Uruguay 4

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# Studienreise

Uruguay 4

Ich bin mittendrin - im Land, in der Diskussion, in der Gemeinschaft liebeswerter engagierter Christenmenschen. Überall erfahre ich freundliche Aufnahme, Interesse an meinem Projekt und jede Menge Unterstützung. Je mehr Eindrücke ich gewinne, desto mehr Fragen kommen hinzu. Aber allmählich ergibt sich ein Bild...

Montag, 11. März

Frauenpower

Das ganze Wochenende stand unter dem Zeichen des Weltfrauentages, auch wenn es für mich mit einem Wieder sehen mit “Nacho” (Juan Ignacio) am Busbahnhof begann.

Ob ich ihn wiedererkenne? - Ah, ja: Von dem Treffen der Jugendlichen in der CEAM vor Wochen. Zugleich ist er derjenige, der freitags im Büro hilft; allerdings habe ich dieses noch nie in Betrieb erlebt.
Er fuhr ebenfalls nach Nueva Helvecia, so daß ich mir um das Umsteigen und Aussteigen keine Gedanken zu machen brauchte. Nach einem gemeinsamen Kaffee in Mónicas Pfarrhaus verabschiedete er sich, und wir begannen theologische Diskussionen (stets auf Spanisch).

Um 19 Uhr erlebte ich dann die dritte Variante des Weltgebetstages, den man des Karnevals wegen um 1 Woche (auf den Weltfrauentag) verschoben hatte. Er fand in der Adventistenkirche statt - im Bild sieht man zwei Jugendliche der Ev. Gemeinde neben ihrer Pfarrerin; gemeinsam wurde die Geschichte vom Festmahl minimalistisch dargestellt. Ferner sieht man im Hintergrund etwas wie ein großes Aquarium; hierbei handelt es sich um das (Erwachsenen-)Taufbecken. Liebevoll hatten die beteiligten Frauen sich landestypisch gekleidet. Die Liturgie wurde diesmal nicht sklavisch eingehalten, und auch auf eine Auslegung wurde verzichtet. Der ausländische Pfarrer war wieder einmal der bunte Hund, über dessen Anwesenheit alle Informationen wünschten.

Da Mónica am Sonnabendvormittag mit dem Bibelunterricht für Kinder anfing, sorgte sie dafür, daß sich eine Dame aus der Gemeinde namens Susana meiner annahm. Wir fuhren nach Colonia Valdense und besichtigten die Einrichtung “Centro Emanuel”. Sie wird gemeinsam von den Waldensern, der IERP und den Methodisten getragen.

Es handelt sich um ein 25 ha großes Gelände, auf dem ursprünglich nur Wochenend-Veranstaltungen, etwa GKR-Klausuren, stattfinden; dafür gibt es entsprechende Gästezimmer, einen großen Gruppenraum und jene Kapelle, die hier zu sehen ist - im Vordergrund jene Mitarbeiterin, die mir alles zeigte und erklärte.
Wegen einer zwischenzeitlichen Erbschaft ist das Gelände viel größer als im Ursprung, und deshalb widmet sich das Centro Emanuel heutzutage der ökologischen Landwirtschaft. Das verschaffte mir u.a. die Gelegenheit, im Hofladen köstlichen Käse zu probieren.

Anschließend besuchten wir eine alte Dame, die sich früher wesentlich um die Vorbereitung des Weltgebetstages in Montevideo kümmerte, indem sie die Texte ins Deutsche übersetzte - was ihrer Profession entspricht. Nun lebt sie mit ihrem Ehemann, einem pensionierten Pfarrer der IERP, im hogar de ancianos der Waldenser. Ich überbrachte ihr Grüße des Frauenkreises in Montevideo und eine der als Dekoration des WGT dienenden Papiernelken sowie ein WGT-Heft in deutscher Sprache.

Nach dem Mittagessen in einem Restaurant in Colonia Valdense - ich bestand vergeblich darauf einzuladen - fuhren wir 17 km zu dem gemeindeeigenen Grundstück in Los Pinos am Rio de la Plata, wo jeden Januar die Jugendcamps (allerdings keineswegs, wie ich dachte, in Zelten) stattfinden; ansonsten wird das Geläde an Touristen oder für Familienfeiern vermietet.

Ohne Mittagspause ging es dann weiter mit dem Auftakt-Treffen der Jugendlichen (unter ihnen zwei, die in diesem Jahr mit dem Konfirmandenunterricht beginnen werden): Es bestand aus mir sehr bekannten Kennlernspielen, lockerem Plaudern und Singen (bei dem ich mich einbringen konnte), einer Süßigkeitenpause und Besprechung über das anstehende uruguayweite Treffen in Young (Pijamada = Pyjamaparty). Nach dem “offiziellen” Teil schlug ich noch vor, ein von mir mitgebrachtes Spiel zu spielen, das den Jugendlichen so sehr gefallen hat, daß ich es ihnen anschließend gern überlassen habe.

Um 18 Uhr (und damit nach drei Stunden statt nach einer) gingen wir auseinander, d.h. Mónica und ich in das gegenüberliegende Pfarrhaus. Doch Pause war nur bis kurz nach 19 Uhr, denn dann wurde es Zeit aufzubrechen ins Kulturhaus, wo ein Journalist aus Anlaß des Internationalen Frauentages einen (angekündigt: einstündigen) Vortrag über “Geschichten von Frauen, die Geschichte schrieben” halten sollte und auch tatsächlich hielt; nur daß es am Ende mehr als 100 Minuten waren und mir die Synapsen glühten vom immer schnelleren Redeschwall, so interessant es auch war.

Da Mónica ihre Predigt erst in der Nacht zum Sonntag zu schreiben pflegt, unterhielten wir uns anschließend nur noch kurz; ich zog mich zurück, sie hatte zu arbeiten.

Der Sonntagsgottesdienst begann - mit nur wenigen Teilnehmenden - um 10 Uhr. Ich durfte eine Lesung übernehmen und mußte natürlich am Ende erklären, was ich hier überhaupt mache usw.. Die Predigt über die Versuchung Jesu begann Mónica - wie wir das diskutiert hatten - mit dem Zitat einer Frauenrechtlerin aus den USA, das sinngemäß so lautet: “Ich mißtraue denen, die behaupten, sie wüßten, was Gott will, daß wir tun sollen. Denn es stimmt immer mit ihren eigenen Vorstellungen überein.” Daran ließ sich wunderbar der Dialog Jesu mit dem Versucher anschließen, dessen tückische List eben darin besteht, sich auf Worte der Bibel zu berufen, um jemanden - hier Jesus - von Gott wegzulocken.

Das Seniorenheim “Frauenverein”, gegründet 1909, lud uns zum Mittagessen daselbst ein - direkt neben der Kirche.  Eine unserer Tischgenossinnen hatte gottlob ihr eigenes Salz mitgebracht... Nach dem üppig süßen Nachtisch hieß es: “¡Vamos a sestar!” (“Machen wir Siesta!”); aber es dauerte, bis alle Gespräche im Vorübergehen der Pastorin beendet werden konnten.

Dann aber wirklich eine Ruhepause vor einem letzten Gesprächsgang beim Kaffee, der ebenso von Heiterkeit wie von Übereinstimmung in zahlreichen theologischen Fragen gekennzeichnet war. Ich erfuhr u.a., daß das Thema von Mónicas Examensarbeit seinerzeit die allmähliche Wandlung der IERP von einer deutschsprachigen zu einer spanischsprachigen Kirche war. Der Prozeß läuft weiter - und wie aussieht, hat die sprachliche Assimilation der konfessionellen Identität keinen Abbruch getan.

Übrigens fahre ich am kommenden Wochenende von Young nicht “nach Hause”, sondern nach Colonia Valdense. Denn bei einer kurzen Besichtigung der dortigen Kirche der Waldenser am Sonnabend wurde ich spontan eingeladen, am 17.3. das dortige Erntedankfest mit zu feiern; und schon wurde für mich organisiert, wie ich per Bus dahin gelange und daß ich im Pfarrhaus des waldensischen Kollegen übernachten kann...

Dienstag, 12. März

In Amt und Würden

Für den Besuch beim Kardinal (es gibt leider kein Foto, da das Handy aufgeladen werden mußte) bat mich Jerónimo "lo más formal que tengas" anzuziehen; also trug ich schwarze Hose und ein halbwegs konservatives Hemd.

Der Kirchenmann war aber - obwohl seine Residenz durchaus beeindruckend ist und er sehr wohl über Personal verfügt, das ihm zuarbeitet - ebenfalls ein unkomplizierter und freundlicher Mann.

Erstmals fühlte ich nicht wie der freundlicherweise zugelassene Hospitant, sondern nahm an dem Gespräch aktiv teil.

Es ging um zwei Themen. Der Kreuzweg war recht schnell besprochen. Am Karfreitag werden die Katholiken, Anglikaner und die Deutsche Evangelische Gemeinde eine ökumenische Wortverkündigungs-Prozession machen, die von der Kathedrale zum Anglikanischen Tempel führt - ein kurzer Weg am Rande der Altstadt.

Das Thema "Zwingli-Jahr" liegt Jerónimo sehr am Herzen. Er berichtete von seinen Verabredungen mit dem Schweizer Botschafter. Es gibt ein Konzert mit einem Schweizer Organisten, einen Festgottesdienst - dies beides in der Ev. Kirche der CEAM - und einen Vortrag; letzterer wird in einem kleinen, festlichen Hörsaal der Katholischen Universität stattfinden.

Jerónimo erläuterte dem Kardinal historische und theologische Einzelheiten über die Unterschiede zwischen Luther und Zwingli, und an zwei Stellen mischte ich mich mit Bemerkungen in das Gespräch ein - so als es um das Verbot von Kirchenmusik ging (was so nicht stimmt; wohl aber war in der ersten Zeit in Zürich mehrstimmiger Gesang sowie der Gebrauch der Orgel verboten) und indem ich darauf hinwies, daß Jerónimo es unterlassen hatte zu erwähnen, daß Zwingli 1531 bei Kappel in der Schlacht des protestantischen Heeres gegen die Katholiken starb. Für letztere Intervention dankte mir mein Kollege nach dem Besuch, denn er hatte darauf zu sprechen kommen wollen, aber irgendwie nicht den richtigen Zugang gefunden.

Mittwoch, 13. März

Mittenmang

Regenbedingt fuhren wir abermals im Taxi (für schlappe 160,- $) in die Altstadt, in den “Club Uruguayo”, eine noble Adresse, der Einladung des Apostolischen Nuntius folgend zu einem Empfang aus Anlaß des sechsten Jahrestages des Beginns des Pontifikats von Papst Francisco.

Der edle Saal war mit Menschen und Stimmengewirr erfüllt, als wir pünktlich um halb eins eintrafen. Sogleich wurde ich einigen Leuten - etwa dem Pfarrer der Anglikanischen Gemeinde - vorgestellt und traf auch mir bereits bekannte Personen wie Bischof Fajardo, Kardinal Sturla und Rabbiner Dolinsky wieder.
Es wurde noch ein wenig abgewartet, ehe mit dem Abspielen (und lautstarken Mitsingen) der uruguayischen und der Vatikan-Hymne der offizielle Teil begann. Der - erst seit kurzem im Amt befindliche - Nuntius, der deutsche Monsignor Krebs, hielt eine kurze Rede und eröffnete dann das Buffet.

Die meiste Zeit plauderte ich mit einer Dame, die mich ansprach, weil sie mich von irgendwoher zu kennen glaubte; sie hielt mich zunächst für einen Anglikaner. Es stellte sich heraus, daß sie mich beim zweisprachigen Gottesdienst in der CEAM mit dem Chor “De Profundis”, in dem ihre jüngste Tochter mitsingt, erlebt hatte. Ihre Familie hat sehr internationale Wurzeln, Frau Collet spricht aber ausgezeichnet Deutsch und hat auch die deutsche Staatsangehörigkeit. Wir tauschten uns über die Themen “Staat und Kirche in Uruguay” und ökumenische Fragen sowie unsere Telefonnummern miteinander aus. Vielleicht sehen wir uns bei einem der ausstehenden Gottesdienste in der CEAM wieder; obwohl sie dort normalerweise nicht teilnimmt, da sie katholisch ist.

Donnerstag, 14. März

3 auf einen Streich

Was für ein Glückstag!

Erst hat mir Jorge Gerhard zugesagt, daß wir uns am kommenden Dienstag in seiner Schule - dem Colegio San Pablo - treffen können.

Dann ist Daniel Meerhoff zur Sitzung des Leitungsgremiums erschienen, und auch mit ihm konnte ich für den 19.3. eine Verabredung bei ihm zuhause treffen.

Schließlich hat mir Darling Olana zugesagt, nach der comisión directiva Zeit für ein Gespräch zu haben - und das haben wir dann im nahegelegenen venzolanischen Restaurant bei Arepas und Bier geführt.

Die Sitzung fand diesmal im Nebenraum der Kirche statt, denn im fliegenden Wechsel ging es für Jerónimo anschließend im Barbacoa weiter mit einem Treffen der jüdisch-christlichen Bruderschaft.

Die Sitzung war einigermaßen eilig anberaumt worden wegen des uruguayischen Distrikttreffens am Sonnabend, für das es unterdessen allerdings eine Verabredung gab, wer daran teilnimmt und wie man jeweils nach Young gelange.

Die Vorsitzende hatte Punkte gesammelt und alle benachrichtigt; doch eine schriftliche Tagesordnung lag nicht vor. Wieder begann die Sitzung mit der Durchsicht und Korrektur des von Susana vorgelegten Protokolls der vorigen Tagung.

Dann wurde es recht bald hektisch, und die zurückhaltend-freundliche Präsidentin vermochte es nicht, der Disziplinlosigkeit Einhalt zu gebieten. So wurde munter durcheinander geredet, vor allem bei Finanzfragen (besonders hinsichtlich der Beantragung eines Zuschusses in Form eine IERP-Kollekte für den Umbau der Dachetage).

Das heikle Thema “la mesa” (eine Art Geschäftsführender Ausschuß) wurde immerhin benannt, aber noch nicht diskutiert.

Einvernehmen herrschte über die Notwendigkeit, Katechetinnen einzustellen, damit die Nachfrage nach Evangelischem Religionsunterricht befriedigt werden könne, aber auch darin, daß dies für 2019 noch keine Option sei.

Daniel Meerhoff berichtete über den - sehr erfreulichen - Stand im Besetzungsverfahren im Hogar Amanecer für den Posten eines/einer leitenden Erzieher*in, und Jerónimo fand Anerkennung für sein Bemühen um die Würdigung des Zwingli-Jubiläums in Form der von ihm projektierten Veranstaltungen (Vortrag, Konzert, Festgottesdienst).

Obwohl hinsichtlich Geschwindigkeit und Deutlichkeit des Sprechens keinerlei Rücksicht auf mich genommen wurde, habe ich doch so gut wie alles verstanden - selbst das Nuscheln von Roland Kasek, die sehr flache Aussprache von Daniel Meerhoff und den Redeschwall von Jerónimo Granados.

Nach zwei Stunden war die Geduld der Vielbeschäftigten endgültig erschöpft, und ich wurde gebeten, das Schlußgebet (auf Deutsch) zu sprechen.

Freitag, 15. März

“Meines Bruders Hüter sein”

Beim Frauenkreis am Nachmittag gab es Gespräche in Jerónimos Abwesenheit über die letzte Sitzung des Leitungsgremiums, und man hörte mit großem Interesse, wie wir das in Deutschland regeln mit dem Protokoll, der Sitzungsvorbereitung und dem Versenden der Tagesordnung mit der Einladung zur Sitzung (einschließlich Beschlußvorlagen).

Am Abend begleitete ich Jerónimo zu einer Gedenkveranstaltung in der Synagoge aus Anlaß des dritten Jahrestages der Ermordung eines Mitgliedes der jüdischen Gemeinde Paysandú durch einen zum Islam konvertierten Landsmann. Als Ko-Vorsitzender der jüdisch-christlichen Gesellschaft wurde Jerónimo Granados namentlich begrüßt, und zwar vor den zahlreich erschienenen Repräsentanten aus Politik und Gesellschaft. In seinem Schlepptau wurde auch mir die Ehre zuteil zahlreiche Hände von bedeutenden Leuten zu schütteln.

Neben der sehr nachdrücklichen und bewegenden Festrede eines landesweit bekannten Journalisten und Künstlers gab es auch kurze, aber sehr emotionale  liturgische Elemente. In der Rede wurde betont, daß Zusammenleben nicht nur darin bestehe, einander irgendwie zu tolerieren in aller Unterschiedlichkeit, sondern es darauf ankomme, füreinander Verantwortung zu übernehmen - denn Antijudaismus sei kein Problem allein der Juden, sondern Gesellschaft als ganzer, richte er sich doch nicht ausschließlich gegen den Glauben und die Lebensweise jüdischer Mitmenschen, sondern gegen die Freiheit aller, ihren Lebensstil auf der Grundlage gemeinsamer Werte zu wählen; eben diese Grundwerte gelte es aktiv mit Leben zu füllen durch ein Füreinander-Einstehen aller gesellschaftlicher Gruppen und Individuen.

Montag, 18. März

Wiedersehen macht Freude

Um 5.30 Uhr aufstehen und den 6.30 Uhr-Bus nach Paysandú nehmen, wäre nicht zwingend gewesen; aber Marta und Erich hatten mich eingeladen, und die Aussicht auf abermaliges Rudern auf dem Uruguay lockte zusätzlich.

Außerdem konnten wir am Freitagabend in Ruhe mit Mónica Fuchs, der Sekretärin der Gemeinde Paysandú (und gleichzeitig einzigem uruguayischen Mitglied der erweiterten Kirchenleitung der IERP) in Ruhe reden; ferner war die Anreise zur Sitzung des Distrikts Uruguay am Sonnabend in Young auf diese Weise keine große Sache, während die Teilnehmenden aus Montevideo und Nueva Helvecia sich die Nacht im Bus / Auto um die Ohren schlagen mußten, um rechtzeitig um 9.30 Uhr daselbst einzutreffen.

Auch diese offizielle Veranstaltung, die vornehmlich dem Austausch von Informationen dient, wirkte wie ein von Wiedersehensfreude geprägtes Familientreffen. Der Sitzungstisch stand übrigens - man ahnt es kaum - in der Kirche, und Vertreter/innen dreier Gemeinden samt Gast fanden daran Platz genug. Am Vormittag wurde aus allen drei Gemeinden berichtet.

Zum Mittag wurde nebenan - zusammen mit einer beachtlich großen Gruppe Jugendlicher - gespeist. Nachmittags ging es um Fragen des Distrikts im Umgang mit der Gesamtkirche, z.B. Kollektenanträge, die bis Ende März eingereicht werden müssen, um 2020 berücksichtigt werden zu können.

Die meisten Teilnehmenden reisten gegen 16 Uhr wieder ab; die Jugendlichen blieben über Nacht und wollten am Sonntag den Gottesdienst mitgestalten und zuvor über ihre nächsten gemeinsamen Vorhaben beraten.

Ich wurde zu einer einsamen Bushaltestelle gefahren, von wo aus es in dreieinhalb Stunden nach Colonia Valdense ging - Pfarrer Oscar Geymonat hatte mich eingeladen, bei ihm zu übernachten und am Sonntag das Erntedankfest mitzuerleben. 

Wir tauschten uns über die Verbindung der Lutheraner und der Waldenser zu  ihrer jeweiligen “Mutterkirche” in Europa sowie die Frage nach der theologischen Ausbildung nach Schließung der gemeinsamen Fakultät aus. Nicht alle, aber viele Waldenser nutzen die Infrastruktur, die ihnen die Italiener - auf Italienisch - zu bieten haben.

Nicht der Gottesdienstraum (der selbstverständlich keinen Altar, sondern einen Abendmahlstisch aufzuweisen hat), wohl aber das gesamte Gelände rund um die Kirche war mit Früchten und anderen Erntedank-Attributen geschmückt. Zur Feier des Tages sang ein Chor - teils mit Orgelbegleitung - und eine kleine Band begleitete den Gemeindegesang. Ferner gab es eine Taufe.

Mir fiel auf, daß es nur eine Lesung gab; doch das sei dem Anlaß geschuldet, erfuhr ich von der Pfarrfrau. Ferner wurde auf ein Glaubensbekenntnis verzichtet; das sei auch sonst nicht üblich, erfuhr ich.
Die Kirche war gut, aber nicht bis auf den letzten Platz gefüllt - andernfalls hätten alle ca. 800 Gemeindeglieder gekommen sein müssen.

Gepredigt wurde über den ganz normalen Text des Sonntags (Verklärung Jesu), und der ohne Talar agierende Pastor hob dabei (in Aufnahme des Schweigens der Jünger) hervor, daß Beten vor allem bedeute, im ständigen - auch hörenden - Kontakt mit Gott zu stehen und nicht etwa unentwegt zu reden. Ich wurde gegen Ende des Gottesdienstes der Gemeinde vorgestellt, was zur Folge hatte, daß mich im Anschluß daran einige Leute gezielt ansprachen.

Dazu gab es auch reichlich Gelegenheit, z.B. beim Anstehen für das Asado, für das die Einheimischen vorher Bestellungen aufgegeben hatten. Ich habe noch niemals zuvor derart schmackhaftes Fleisch vom Grill gegessen: Die Rindviecher werden mitsamt Leder stundenlang gegrillt, das beginnt bereits am Morgen um vier Uhr; außerdem gab es Hühnchen und Chorizo - wobei die Rindfleischportionen halbkiloweise verkauft wurden.

Hinter uns in der Schlange stand ein frisch in den Ruhestand getretener Mann, der mir erzählte, wie es normalerweise in Uruguay läuft: Man muß 30 Jahre lang eingezahlt haben, um mit 60 Jahren in den Ruhestand gehen zu können. Fehlt einem Beitragszeit, so muß man länger arbeiten - u.U. bis 70. Als Minimum gelten 10 Beitragsjahre. Die meisten, wenn auch nicht alle Uruguayos, zahlen in die staatliche Rentenkasse ein. Heraus bekommt man in der Regel weniger als die Hälfte des Durchschnittsgehaltes der letzten paar Jahre seines Arbeitslebens.

Das mit unserem Kiezfest in gewisser Weise vergleichbare Event (es gab auch Verkaufsstände und Musik, und es gibt hier ebenso die Diskussion, ob das Fest einen Wert an sich habe oder vorrangig dem Erzielen von Einnahmen für einen “guten Zweck” diene) wird von zahlreichen Kommissionen vorbereitet, die jeweils nur für einen Teilaspekt (z.B. Gottesdienst, Grillen, Kuchen etc.) zuständig sind und deren Mitglieder sämtlich namentlich im Programmheft aufgeführt sind, so daß für alle Mitfeiernden transparent ist, wer hier seiner / ihrer Verantwortlichkeit (ggf. nicht) gerecht geworden ist.

Das ist aktive Teilhabe, das ist mutig!

Ich hatte - nicht wissend, wie lange das Fest dauern würde - für den Nachmittag die Busfahrt gebucht und erlebte daher diesen Teil des Festes nicht mehr mit. Gleichwohl hatte ich den Eindruck, daß es - trotz mäßigen Wetters, das einen Open-air-Gottesdienst vereitelt hatte - von allen Teilnehmenden als gelungen empfunden wurde.

Dienstag, 19. März

Zwei Welten

Jorge Gerhard ist einer der ganz wenigen uruguayischen Pfarrer der IERP, d.h. war ein solcher, denn vor zwei Jahren trat er in den Ruhestand. Seither ist er mit halber Stelle Schulinspektor beim Colegio - “Instituto Crandon” - der Methodisten und als solcher für Organisation und Qualitätskontrolle (v.a. des Religionsunterrichtes) verantwortlich.

Was in Deutschland meines Wissen so nicht ginge: Er bezieht gleichzeit eine Rente und das aktuelle Gehalt. Da er in Deutschland Theologie studiert hat, konnten wir uns prima auf Deutsch unterhalten.

Ich erfuhr von seinen Tätigkeiten als Pfarrer in allen drei Ländern, in denen die IERP vertreten ist, und über die unterschiedlichen Regelungen zu Fragen der Sozial- und Rentenversicherungen, wobei die Beschäftigung bei der Kirche - zumal in Uruguay - nochmals einen Sonderfall darstellt.

Hier noch ein Nachtrag zum Thema “Rentenversicherung”: Wer mehr als 30 Jahre in die Kasse eingezahlt hat, bekommt tatsächlich auch mehr als die knappe Hälfte des durchschnittlichen Verdienstes der letzten Arbeitsjahre.

Die Rentenvorsorgekasse der IERP in Argentinien war übrigens mit der schweren Finanzkrise Anfang der Nullerjahre so gut wie leer; ohne Hilfe aus Deutschland hätten die kirchlichen Beschäftigung ohne Altersversorgung dagestanden.

Bruder Gerhard ist in seinem Berufsleben viel herumgekommen und froh darüber, freut sich nun aber nicht weniger, daß die Dinge mittlerweile überschaubarer geworden sind.

Sein Erstaunen und besonderes Interesse galt meinen Erklärungen über den hohen Verwaltungsanteil der Pfarrertätigkeit in Deutschland bzw. der EKD.

Hinsichtlich des christlichen Anspruchs seiner Schule teilt er - aus anderer Perspektive - eine Erfahrung, die ich als Vater gemacht habe, der sein Kind auf eine evangelische Schule geschickt hat, weil ihm das christliche Profil wichtig ist; doch durch die Inanspruchnahme als “Privatschule” durch zahlungskräftige Eltern - hier kostet ein Monat in der Sekundarstufe satte 900,- U$D - überwiegt jedoch der Charakter einer “Eliteschule”, was zu Lasten des christlichen Profils geht.

Gleichwohl stellt dieses Projekt - wie die vergleichbaren Einrichtungen anderer Konfessionen - im laizistischen Uruguay die einzige Möglichkeit dar, Heranwachsende inhaltlich mit der christlichen Botschaft und Tradition bekannt zu machen; denn an den staatlichen Schulen gibt es bewußt keinen Religionsunterricht.

Mittwoch, 20. März

Transformation

Nach einer Stunde Fußmarsch kam ich zur verabredeten Zeit unmittelbar vor dem Haus von Daniel Meerhoff an.
Er ist zwar wichtig, aber kein “Promi” - und ich bin kein Paparazzo; deshalb gibt es heute kein Foto.

Unser erstes Thema war die Frage nach der Identität einer Gemeinde deutschen Ursprungs, in der mittlerweile kaum noch Deutsch gesprochen wird - eine, wie er fand, gute Frage.

Ich erfuhr nun, daß schon der Vorvorgänger von Jerónimo nicht mehr den Status eines entsandten Auslandspfarrers hatte und daß die Gelder, von denen immer wieder im Zusammenhang mit Armin Ihle die Rede ist, sehr häufig aus dessen Freundes- und Bekanntenkreis in Westfalen stammten.

Auch schon unter seiner Ägide wurde der Konfirmandenunterricht in spanischer Sprache abgehalten. Aber erst mit Pastor Granados wurden die wöchentlichen Gottesdienste in deutscher Sprache auf einen einzigen im Monat zusammengedampft.

Es sei grundsätzlich richtig und dem Stand des Assimilationsprozesses angemessen, dies irgendwann zu tun, meinte mein Gesprächspartner. Doch er bedauerte die Art und Weise, wie dies in einem damals disharmonischen Gemeindevorstand beschlossen und umgesetzt wurde.

Und nicht nur er vermißt unter dem ersten nichtdeutschen Pfarrer die Pflege der hergebrachten Sprache und führt den Weggang etlicher - auch zahlungskräftiger und -williger Gemeindeglieder - darauf zurück, daß ein solcher Übergang nicht behutsam genug vollzogen wurde.

Ich äußerte die Vermutung, daß man nach dem Wegfall des Alleinstellungsmerkmals doch auch mit anderen Kirchen / Gemeinden enger zusammenarbeiten könne. - Verhandlungen mit der lutherischen San-Salvador-Gemeinde wurden bereits vor Jahrzehnten begonnen, verliefen aber im Sande und wurden schließlich nicht weiterverfolgt, bekam ich zur Antwort.

Integration

Auf das diakonische Engagement angesprochen, berichtete Daniel Meerhoff über die Arbeit im Armenviertel Barrio Borro - einem Gemeinschaftsprojekt der IERP und anderer evangelischer Kirchen, aus der er sich allerdings schon vor einiger Zeit zurückgezogen hat.

Die Unterstützung von Menschen, die auf der Straße leben und/oder keine Arbeit haben beim Erlernen bürgerlicher Umgangsformen zwecks Arbeitsaufnahme und Wohnungsfindung in diesem Problemviertel steht im Mittelpunkt der Aktivitäten, die von einem guten ökumenischen Miteinander getragen sind.

Daniel Meerhoff selbst, der übrigens im Hauptberuf Dozent und im Nebenberuf Farmer ist (und schon deshalb nicht zu den regelmäßigen Gottesdienstbesuchern zählt und zählen kann) steht ehrenamtlich dem Leitungsgremium des “Hogar Amanecer” vor.

Hier ist es nicht die IERP, sondern die CEAM, die in Kooperation mit anderen Kirchen, allen voran den Methodisten, eine im Laufe der Jahrzehnte gewachsene Arbeit mit Straßenkindern betreibt.

Ursprünglich ein Kinderheim im klassischen Sinne, folgt man nun den staatlichen und internationalen Prioritäten und bemüht sich mit großem Aufwand und einigem Erfolg darum, von den Eltern im Stich gelassene Kinder im familiären Umfeld zu integrieren. Bildungsangebote und die Begleitung durch Sozialarbeiter gehören augenblicklich zu den Prioritäten und werden vom Staat - trotz kritischer Distanz der linken Regierung gegenüber den Inhalten kirchlicher Arbeit - anerkannt und finanziell gefördert.

In der Zukunft soll die Präventionsarbeit, die schon jetzt als vorbildlich gilt, weiter ausgebaut werden.

Ich muß und will diese Arbeit selbst in Augenschein nehmen, habe aber bereits jetzt den Eindruck, daß das Hogar Amanecer (wörtl.: Heim Sonnenaufgang) genau zu jenen Institutionen gehört, denen wir gern den “für einen guten Zweck bestimmten” Erlös unseres Kiez- oder Adventsfestes widmen.

Donnerstag, 21. März

Un día lindo

Wer am Rio de la Plata Spanisch lernt, hat es leicht: Alles, was nett oder hübsch oder angenehm oder schön ist (usw.), nennt man lindo/a.

Aber heute ist wirklich ein schöner Tag!

Seit 10 Tagen habe ich die Adresse eines Ruderclubs, zu dem ich nur 35 Minuten zu Fuß brauche statt über eine Stunde im Bus, und am Montag war ich zum ersten Mal dort; heute wieder. Und das wird nicht das letzte Mal gewesen sein! Abgesehen von den günstigen äußeren Umständen verfügt der Verein - bei dem ich wiederum willkommen bin, kostenlos Sport zu treiben - über sehr viel schnittigere Boote, und überdies ist es ein ganz anderes Rudererlebnis, auf den Wellen des Rio de la Plata zu schaukeln (eine Rettungsweste ist deshalb obligatorisch und fehlt auf dem Bild nur, weil ich sie extra erst nach dem Foto angezogen habe).

Die vorüber fliegenden Papageien konnte ich mit der Kamera nicht festhalten, aber dafür entschädige ich für den gestrigen bildlosen Beitrag heute mit einer Aufnahme des Leuchtturms von Punta Carretas und widme mich im weiteren Verlauf des Tages der Gottesdienstvorbereitung für Sonntag (ich habe angeboten, noch einmal auf Spanisch zu predigen, und der vielbeschäftigte Jerónimo freut sich über diese Entlastung) sowie natürlich dem Frauenkreis, der nachher stattfinden wird.

Freitag, 22. März

Haschen nach Wind

Daß es nichts wirklich Neues unter Sonne gibt, beklagt der sogenannte "Prediger", der im selben Zusammenhang vom Haschen nach Wind spricht (Kohelet 1).

Doch, ich habe viel Neues erfahren und erleben dürfen, und es bedeutet einen Unterschied, ob man davon hört oder liest, oder ob man es mit eigenen Augen sieht.

Gleichwohl ist dies noch immer etwas ganz anderes, als wenn man existentiell jenen Lebensbedingungen unterworfen ist, die man zu studieren beschlossen hat.

Die Vielzahl von Perspektiven, mit denen ich konfrontiert war, filtert ein wenig und reduziert die Gefahr einer vorschnellen subjektiven Vereinnahmung; gleichzeitig ist auf diese Weise der Weg zu einer Art "abschließenen Urteil" doch auch erschwert.

Gelegentlich fühle ich mich wie jemand, der immer wieder die vom Regen beschlagene Fensterscheibe wischt, um Durchblick zu gewinnen - diesen jedoch stets aufs Neue wieder verliert.

Nun stehen - wenn er zustande kommt - noch ein Besuch im Hogar Amanecer an sowie einige Gottesdienste, und nicht zuletzt (aber gegen Ende) der Besuch bei der Kirchenleitung in Buenos Aires.

Dann werde ich Bilanz ziehen. Doch das ist dann nicht mehr Bestandteil dieses Reiseberichtes, sondern der für den internen Dienstgebrauch vorgesehene Abschlußbericht, der nicht veröffentlicht wird, sondern dem Konsistorium vorgelegt wird und ferner dem Gustav-Adolf-Werk und dem Berliner Missionswerk, die mich logistisch und auch finanziell unterstützt haben, sowie der Gemeindeleitung in Montevideo, die es mir ermöglicht hat, diese intensive Zeit hier zu erleben und zu gestalten.

Insofern bitte ich um Nachsicht, wenn nun nur noch sporadisch Einträge folgen.

Sonntag, 24. März

Die wenigen und die vielen

"Hoffentlich hast Du nicht viel gegessen heute", sagte Jerónimo, als wir zur Geburtstagsparty eines Gemeindegliedes aufbrachen, zu der er mich statt seiner in Buenos Aires weilenden Frau mitbringen durfte.

Im "Yachtclub von Urugay" wurde der 80. Ehrentag des erfolgreichen Managers ganz groß gefeiert, was sowohl die Zahl der Gäste als auch das kulinarische und das Showprogramm betrifft.

Pastor Granados betonte, daß dies zwar die obere MIttelschicht sei, nicht aber die die wirkliche Oberschicht - wenn auch sicher (so seine Vermutung) alle Anwesenden über eine Wohnung in Montevideo und ein Haus in Punta del Este verfügen. Da fehlt mir der Vergleich: Bei den obersten 10000 war ich noch nicht zu Gast; aber was ich hier erlebte, war schon zweifellos Luxusleben.

Bei lauter Musik und Geplauder war es für mich fast unmöglich, auch nur ein paar Sätze Smalltalk zu machen - aber das Atmosphärische hat sich mir weitestgehend auch ohne Wortwechsel erschlossen. Ich brach schon kurz nach 23 Uhr nach Hause auf, mein Kollege blieb länger.

Immerhin: Jerónimo brachte vom Fest (die schon verher zugesagten) Blumen für den Altarschmuck mit, und tatsächlich nahm der alte Herr - ein Seltengänger - heute am Gottesdienst teil. Jerónimos Diplomatie, die Gemeinde überall aktiv zu repräsentieren, scheint sich immer wieder auszuzahlen.

Ansonsten aber waren heute nicht viele Leute im Gottesdienst, wo sie einen etwas chaotischen Ablauf mit einigen sonst nicht üblichen Gesängern (Taizé) erlebten sowie den Ausländer auf Spanisch predigen hörten - wovon sie immerhin inhaltlich angetan waren.

Die Predigt hier auf Deutsch abzudrucken, halte ich für etwas albern; sie auf Spanisch wiederzugeben, dürfte für so gut wie alle Lesenden wenig sinnvoll sein.

Also war es das mit dem Blogeintrag für heute.

Montag, 25. März

Saitensprünge

Wie Jerónimo es vorausgesagt hatte, kam ein ganz anderes (und zahlreicheres) Publikum am Sonntagabend zusammen, um ein klassisches Gitarrenkonzert zu hören, bei dem zeitgenössische Werke mit großer Meisterschaft aufgeführt wurden.

Hatte der Pfarrer die Anwesenden noch begrüßt, so war er am Ende bereits unterwegs nach Buenos Aires, und die Aufräumarbeiten wurden von mir erledigt.

An dieser Stelle ein längst fälliger Nachtrag zum Thema "Gehalt": Kürzlich unterhielten wir uns abermals über die Bezahlung von Pfarrern, und Jerónimo erklärte erstens, daß er nichts zu klagen habe, und zweitens, daß ich ihn tatsächlich falsch verstanden hatte, als ich meinte, er erhielte 40.000 $. Tatsächlich ist es also doppelt so viel. Auch von gut 1000 Euro im Monat (bei freiem Wohnen einschließlich aller Nebenkosten) kann man keine großen Sprünge machen - aber doch immerhin regelmäßig die angesparten freien Tage in Reisen nach Argentinien umsetzen.

Dienstag, 26. März

Leben lernen

Der Bus fuhr ganz in meiner Nähe vorbei und hat seine Endstation beinahe direkt neben dem Kinderheim; bis dahin allerdings war ich über eine Stunde unterwegs (und dann trotzdem eine halbe Stunde früher als verabredet vor Ort).

Ich hatte ja von Daniel Meerhoff bereits viel über die Arbeit des Hogar Amanecer erfahren (und hier darüber berichtet), also ging es mir nun eher darum, mir ein auch optisches Bild vom “Heim Morgendämmerung” zu machen.

Silvia Perri, die jüngst in den Ruhestand getretene vormalige Leiterin, erwartete mich bereits, zeigte mir die Funktions- und Schlafräume der derzeit nur noch 15 Kinder und Jugendlichen, die permanent im Hause sind, und stellte mir erst einmal etliche Fragen über meine bisherigen Erkenntnisse usw., ehe ich dann meine Fragen stellen konnte.

Während eines kleinen Rundganges über das recht große Gelände mit Spiel- und Sportplatz erfuhr ich z.B., daß derzeit 25 Personen beim Hogar Amanecer arbeiten - die meisten nicht im Heimbereich, der allerdings auch personalintensiv ist, sondern in der Beratungs- und Erziehungsarbeit. Diese Personalkosten werden erstaunlicherweise vom Staat fast vollständig übernommen.

Es gibt allerdings augenblicklich Probleme, weil  die Vertreter des Staates neuerdings eine Änderung der Vereinbarung fordern, in der sie einen Verzicht auf christlich-inhaltliche Arbeit verlangen; dazu sind die CEAM und die Methodisten jedoch nicht bereit. Da die Einrichtung als vorbildlich gilt (und darüber hinaus für weniger Geld mehr leistet als entsprechende staatliche Heime), rechnen die Kirchenvertreter damit, daß sie sich mit ihrer Position durchsetzen können

Ich traf dann auch noch zwei (von drei) jungen Leuten (diese beiden waren aus Deutschland), die - alljährlich ist das so - ein Freiwilligenjahr im Hogar Amanecer verbringen. Sie kamen hier fast ohne Spanischkenntnisse an und taten sich, wie Silvia mir anvertraute, sehr schwer mit dem Sprachelernen.

Aber ohne das geht es natürlich nicht in der direkten Arbeit mit den Kindern, die - wie man auch auf dem Foto sieht - sehr anhänglich, sehr liebesbedürftig sind, aus extrem schwierigen, um nicht zu sagen desolaten bzw. nicht vorhandenen familiären Verhältnissen kommen.

Ein Beispiel: 5 Geschwister lebten im Heim, besser gesagt: Halbgeschwister. Sie hatten (“zuhause”) weitere 4 Geschwister. Wir kennen das auch in Deutschland: Prekariat ist sozusagen “erblich”. Lebensmodelle werden von den Kindern reproduziert.

Das Hogar Amanecer beläßt es nicht dabei, unmittelbare Nothilfe zu leisten, sondern arbeitet mit den Eltern daran, ihr eigenes Leben in den Griff zu bekommen, damit ihre Kinder eine Chance erhalten, ein geregeltes Leben zu führen.

Ich kann nach meinem Besuch mit voller Überzeugung das Hogar Amanecer als unterstützungswürdig empfehlen. Während die Personalkosten gesichert sind, ist die Unterhaltung der Gebäude und der Außenanlagen allein Angelegenheit des Trägervereins - und ich konnte sehen, wie manche Reparaturen und Ausbesserungen offenbar aufgeschoben worden waren in der Hoffnung auf finanziell bessere Zeiten.

Sonnabend, 6. April

Über meine Erfahrungen in Buenos Aires berichte ich später.

Morgen halte ich meinen letzten Gottesdienst in der CEAM - und kommenden Sonntag dann noch einen in Punta del Este.

Hier meine Predigt für den Sonntag Judika:

Gnade sei mit euch und Frieden von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus! Amen.

Liebe Gemeinde,
heute werde ich Sie - passend zu unserem Predigttext - mit einer sehr altertümlichen, von vielen als langweilig und überholt empfundenen Form der Predigt konfrontieren - um nicht zu sagen “geißeln”: Eine Homilie.

Das bedeutet, ich gehe die Perikope Vers für Vers durch und lese den langen Abschnitt aus dem Johannesevangelium, Kapitel 18, 28 bis 19, 5 nicht am Stück, sondern meine Frau wird dies Satz für Satz tun:

18 28 Die, die Jesus verhört hatten, brachten ihn nun vom Haus des Kajafas zum Prätorium, dem Amtssitz des römischen Gouverneurs; es war jetzt früh am Morgen. Sie selbst betraten das Gebäude nicht, um die Reinheitsvorschriften nicht zu verletzen; sie hätten sonst nicht am Passafest teilnehmen können.

Jesus ist gefangengenommen worden, ist denen in die Hände gefallen, die sich schon seit langem an seiner Predigt vom kommenden Reich Gottes stoßen, die nicht hinnehmen wollen, daß Gott heilsame Zeichen seiner Gegenwart unter den Menschen setzt und Hoffnung schenkt, daß Leben in Würde möglich sei.

Diese vorgeblich Frommen, die sich nicht verunreinigen wollen, indem sie das Haus eines Heiden betreten so kurz vor dem Passafest, das ja an den Auszug der Israeliten aus der Sklaverei der heidnischen Ägypter erinnert: sie wollen das kleine bißchen Einfluß, das ihnen unter der römischen Willkürherrschaft noch geblieben ist, verteidigen und unterwerfen sich der Macht des Gouverneurs, der in ihrem Land derzeit ganz allein über Leben und Tod zu entscheiden hat.

Sie wissen, daß sie sich mit dieser Demütigung selbst ad absurdum führen. Aber sie haben keine andere Logik als eben die der Machterhaltung - und sei es eben auf dem Wege der Anerkennung fremder Macht.

29 Deshalb kam Pilatus zu ihnen heraus. »Was für eine Anklage erhebt ihr gegen diesen Mann?«, fragte er.

Das klingt, als kümmere sich der Oberboß persönlich um jeden Einzelfall. Dabei war er nur wegen des Passafestes überhaupt in Jerusalem; sonst hielt er sich lieber in seiner Residenz in Caesarea, am Mittelmeer, auf. Und natürlich hatten ihm seine Spitzel längst zugetragen, daß wieder einmal Unruhe aufkeimte unter den Juden, daß einmal mehr der Messias erwartet wurde - und mit ihm ein Ende der Pax Romana.
Er wollte es aber von den Speichelleckern selber hören, was sie ihrem Landsmann und Glaubensgenossen vorzuwerfen hatten, daß sie ihn den verhaßten Römern ans Messer liefern.

30 Sie erwiderten: »Wenn er kein Verbrecher wäre, hätten wir ihn nicht zu dir gebracht.«

Oh, was für eine Loyalität! Die Tempelschranzen funktionieren wie seinerzeit die nominell souveränen Regierungen von Satellitenstaaten der Supermächte - ob nun im Ostblock gegenüber Moskau oder in südamerikanischen Diktaturen im Hinblick auf Washington.

Sie halten sich formal an Recht und Gesetz - freilich nicht an ihr eigenes, die Thora, sondern an die Dekrete des Kaisers.

Nicht um Gerechtigkeit und Selbstbestimmung geht es ihnen, sondern um ihr relatives Recht, zumindest dem Titel nach die Führungselite ihres Volkes zu sein, auch wenn sie unumwunden einräumen müssen, daß sie Wirklichkeit nichts zu sagen haben.

31 Da sagte Pilatus: »Nehmt doch ihr ihn und richtet ihn nach eurem Gesetz!« Die Juden entgegneten: »Wir haben nicht das Recht, jemand hinzurichten.«

Wie großmütig: Der Fremdherrscher gesteht Autonomie zu!
Aber die ist hier ausdrücklich gar nicht gewollt.
Selbstverständlich - oder eigentlich müßte ich eher sagen: leider - gibt es die Todesstrafe im Alten Testament. So ist sie vorgesehen im Fall von Ermordung (Ex. 21, 12), Entführung (Ex. 21, 16), Bestialität (Ex. 22, 19), Ehebruch (Lev. 20, 10), Homosexualität (Lev. 20, 13), falscher Prophetie (Dtn. 13, 5), Prostitution und Vergewaltigung (Dtn. 22, 4) und bei einigen anderen Verbrechen.

Die Regelung im Falle von Gotteslästerung läßt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: Wer den Namen des Herrn lästert, muß getötet werden. Die ganze Gemeinde soll ihn steinigen. Er sei ein Fremder oder ein Einheimischer, wenn er den Namen lästert, soll er getötet werden. (Lev. 24, 16)

Nur eben ist den jüdischen Autoritäten die Gerichtsbarkeit für Kapitalverbrechen entzogen; die Römer behalten sich allein das Recht vor, jemanden abzuurteilen und somit “legal” zu Tode zu bringen.

Das Kreuz Christi war nicht das erste und nicht das letzte, welches das Imperium als abschreckendes Beispiel errichtet hat, um Umstürzler von ihrem Vorhaben abzubringen, die Macht Roms in Frage zu stellen.

32 So sollte sich das Wort erfüllen, mit dem Jesus angedeutet hatte, auf welche Weise er sterben werde.

Ich belasse es an dieser Stelle bei einem Zitat aus dem 5. Buch Mose, Kapitel 21, Verse 22 und 23: 'Wenn jemand ein todeswürdiges Verbrechen begeht und er getötet wird und du ihn an einen Pfahl hängst, darf sein Leichnam nicht über Nacht am Pfahl hängen bleiben, sondern du mußt ihn noch am selben Tag begraben. Denn ein Gehängter ist von Gott verflucht, und du sollst deinen Boden nicht unrein machen.'

33 Pilatus ging ins Prätorium zurück und ließ Jesus vorführen. »Bist du der König der Juden?«, fragte er ihn.

Jetzt gelten wieder der ordentlichen Spielregeln: Der Herrscher thront, der Gefangene wird vorgeführt und verhört.

“In welcher Sprache eigentlich haben die beiden miteinander gesprochen?”, wurde im Frauenkreis gefragt. Auf solche Details kommt man - betriebsblind, wie man als Profi wird -, zumeist gar nicht.

Ich halte es für ausgeschlossen, daß Jesus irgendeine andere Sprache beherrschte als das umgangssprachliche Hebräisch seiner Zeit, das Aramäische.
Zwar ist es denkbar, aber sehr unwahrscheinlich, daß sich ein römischer Gouverneur - sofern er dazu überhaupt in der Lage gewesen sein sollte - dazu herab ließ, die Landessprache zu verwenden. Also dürfen wir annehmen, daß hier nicht erwähnte Dolmetscher im Spiel waren. Aber das nur am Rande.

34 Jesus erwiderte: »Bist du selbst auf diesen Gedanken gekommen, oder haben andere dir das über mich gesagt?« -

Schon in der allerersten Antwort Jesu wendet sich das Blatt: Aus dem Angeklagten, Befragten, Bedrängten wird derjenige, der das Wort führt.

Mit seiner Gegenfrage stößt Jesus den Ausländer, den Heiden, darauf, daß er sich anschickt, sich auf ein Gebiet zu begeben, von dem er keine Ahnung hat und das ihm - wir werden das noch sehen - im Grunde auch vollkommen egal ist.

35 »Bin ich etwa ein Jude?«, gab Pilatus zurück. »Dein eigenes Volk und die führenden Priester haben dich mir übergeben. Was hast du getan?«

Der Rollentausch funktioniert: Pilatus muß jetzt rechtfertigen, weshalb er überhaupt die Frage gestellt hat, ob Jesus der König der Juden sei - ein Posten übrigens, der besetzt war mit einer Art Frühstückdirektor von Roms Gnaden, der von den Priestern nur zähneknirschend akzeptiert wurde. Selbst wenn Jesus behauptet hätte, der König der Juden zu sein, hätte das Pilatus völlig kalt lassen können, wenn er nicht theologisch gebildete Stichwortgeber gehabt hätte, die ihn, wie wir wissen, später noch - und dann vergeblich - zu korrigieren versuchen, als der Urteilsspruch auf dem Kreuz angebracht wird.

36 Jesus antwortete: »Das Reich, dessen König ich bin, ist nicht von dieser Welt. Wäre mein Reich von dieser Welt, dann hätten meine Diener für mich gekämpft, damit ich nicht den Juden in die Hände falle. Nun ist aber mein Reich nicht von dieser Erde.«

Ist das nun tatsächlich eine Antwort, die Jesus dem Pilatus gibt - oder ist es eine Aussage des Evangelisten Johannes, die an uns gerichtet ist?

Ich stelle mir vor, ein vielleicht sogar wohlmeinender Staatsanwalt erhielte eine derartige Antwort:  Muß er sich nicht verschaukelt fühlen? - Was ist denn das für eine Auskunft: “Nicht von dieser Welt.”?!

Und war nicht der Messiasgedanke des Ersten Testaments sehr wohl ein solcher, der mit einem Herrschaftsanspruch einhergeht, mit dem Königtum Gottes nämlich?!
Und warum gilt Jesu Hinweis “damit ich nicht ... in die Hände falle” den Juden? Er ist doch den Römern in die Hände gefallen, steht vor Pilatus, auch wenn die Sadduzäerclique ihn ausgeliefert hat!

Einzig der Hinweis darauf, daß Jesus ausschließen will, daß man um seinetwillen zu den Waffen greift, leuchtet mir unmittelbar und vollumfänglich ein. Und der Dialog geht weiter:

37 Da sagte Pilatus zu ihm: »Dann bist du also tatsächlich ein König?« Jesus erwiderte: »Du hast Recht – ich bin ein König. Ich bin in die Welt gekommen, um für die Wahrheit Zeuge zu sein; dazu bin ich geboren. Jeder, der auf der Seite der Wahrheit steht, hört auf meine Stimme.« -

Das ist nun aber wirklich interessant, liebe Gemeinde:
Das Königtum steht plötzlich nicht mehr in Frage, aber es wird ganz anders interpretiert als eben noch. In die Welt gekommen, um für die Wahrheit zu zeugen, sei er, sagt Jesus jetzt.

Das hört sich womöglich nach einer Ausflucht an - weg von der Politik, hin zur Philosophie.

Aber die Wahrheit - gleich wird darüber noch zugespitzter diskutiert - ist auf jeden Fall eine Kraft. Johannes läßt Jesus an anderer Stelle sagen: 'Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.'

38 »Wahrheit?«, sagte Pilatus zu ihm. »Was ist Wahrheit?«

Damit brach Pilatus das Verhör ab und ging wieder zu den Juden hinaus. »Ich kann keine Schuld an ihm finden«, erklärte er.

Es ist schon über 30 Jahre her, liebe Geschwister, aber dieser Stachel steckt noch immer in meinem Gemüt, den jener Satz in mir hinterlassen hat, der mir beim Homiletik-Seminar entgegen geschleudert wurde: “Die Wahrheit ist nicht inhaltlich, sondern kommunikativ.”

Will sagen: Du mußt dich deinem Gegenüber auch verständlich machen, sonst nützt alle Erkenntnis nichts, sondern sie bleibt graue Theorie: kraft- und wirkungslos.

Hier aber funktioniert die Interaktion: Pilatus wehrt ab, als das Stichwort “Wahrheit” ins Spiel gebracht wird, weil für ihn klar ist, daß es hier nicht um so etwas wie einen “Fakten-Check” geht, sondern um die Frage: “Was ist dein einziger Halt im Leben und im Sterben?”

Darauf läßt er sich nicht ein.
Das ist nichts für Realpolitiker, sondern bestenfalls für Sozialromantiker, für harmlose Spinner wie eben diesen Jesus, der ganz besoffen zu sein scheint von dem Gott der Juden, von dem daher auch keine ernstzunehmende Gefahr ausgeht für das Imperium Romanum.

Also lautet sein Fazit: Nicht zuständig. Nehmt ihn und macht mit ihm, was ihr wollt! Laßt mich in Ruhe mit euren religiösen Streitigkeiten, ich habe Wichtigeres zu tun!!

39 »Nun habt ihr ja nach eurem Brauch Anspruch darauf, daß ich euch am Passafest einen Gefangenen freigebe. Wollt ihr, daß ich euch den König der Juden freigebe?« -

Pilatus ist Diplomat genug, die Chance des Augenblicks zu nutzen: Mit einer generösen Geste könnte man diese Unruhegeister womöglich beschwichtigen und zugleich den Eintrag in die Geschichtsbücher optimieren. Das ist doch ein echtes Angebot zum Frieden, oder?

40 »Nein, den nicht!«, schrieen sie zurück. »Wir wollen Barabbas!« Dieser Barabbas war ein Verbrecher. “Wir sind das Volk!”, schreit die aufgewiegelte Menge. Wir wollen, daß einer es “denen da oben” so richtig zeigt.

Barabbas hat das getan, er war nicht einfach ein “Verbrecher”, sondern höchstwahrscheinlich ein Terrorist, wie wir heute sagen würden: einer, der Anschläge auf römische Einrichtungen verübt hat.

Wenn sie den haben können - wenn Pilatus so blöd ist, den herauszugeben: dann nur zu!
Jesus?
Ja, vielleicht hat er tatsächlich nichts getan, was ihm vorzuwerfen wäre.
Aber eben auch nichts, womit er die Sympathien der Frustrierten für sich zu gewinnen vermocht hätte, die sich einen König, einen Anführer wünschen, der sie zu den Waffen ruft, um die Römer endlich aus dem Land zu jagen.

19 1 Daraufhin ließ Pilatus Jesus abführen und auspeitschen. 2 Nachdem die Soldaten ihn ausgepeitscht hatten, flochten sie aus Dornenzweigen eine Krone, setzten sie Jesus auf den Kopf und hängten ihm einen purpurfarbenen Mantel um. 3 Dann stellten sie sich vor ihn hin, riefen: »Es lebe der König der Juden!« und schlugen ihm dabei ins Gesicht.

Der König der Juden wird verhöhnt - ja. Aber wird nicht zugleich damit auch das Volk verhöhnt, dessen König hier an den Pranger gestellt wird?

Das scheint niemanden zu kümmern - damals nicht und später erst recht nicht, als diese johlende Menge christlichen Theologen dazu nützlich wurde, ein pauschales Urteil zu fällen über die “Christusmörder”.

Aber wurden sie gefragt, ob Jesus den Tod als Gotteslästerer verdient habe?

Als Goebbels die aufgepeitschte Menge fragte: “Wollt ihr den totalen Krieg?”, da konnte man als einzelner antworten, was man wollte - zu hören war im Sportpalast nur ein gigantisches Tosen.

4 Anschließend wandte sich Pilatus ein weiteres Mal an die Menge. Er ging hinaus und sagte: »Ich bringe ihn jetzt zu euch heraus. Ihr sollt wissen, daß ich keine Schuld an ihm finden kann.«
“Ich bin nicht schuld an seinem Tod.”
Pilatus sagt, was wir denken, wenn wir andere machen lassen, wenn wir achselzuckend hinnehmen, daß Menschen zu Tode kommen, weil niemand aktiv für sie Partei ergreift, wenn Menschen sterben, weil man sie ihrem Schicksal überläßt, sie einer Meute ausliefert, die Blut sehen will.
Niemand übernimmt Verantwortung...

5 Jesus trat heraus. Auf dem Kopf trug er die Dornenkrone, und er hatte den Purpurmantel um. Pilatus sagte zu der Menge: »Hier ist er jetzt, der Mensch!«

Hier ist er jetzt - der Mensch, den du lieben sollst; denn er ist wie du.
Hier ist er jetzt - der Mensch gewordene Gott, der sich uns auf Gedeih und Verderb ausliefert.
Hier ist er jetzt - und niemand steht ihm zur Seite.
Er aber steht auf unserer Seite, er steht an unserer Stelle: Gott ist uns Sündern gnädig.

Amen.

Montag, 8. April

Eine bezaubernde Visite

Auf der Hinreise nach Buenos Aires nahm ich mir am 30. März etwas Zeit, um mir Colonia del Sacramento anzuschauen; das ist der Ort mit dem Fährhafen.

Es war zwar über 30°C heiß, aber ich lernte den schönsten Ort Uruguays kennen mit einer Festungsanlage aus dem 17. Jahrhundert. Obwohl sonnabend sehr bevölkert, kam ich mir wie in einem Freilichtmuseum vor, allerdings in einem sehr  ansprechenden.

Am Sonntag früh holte ich dann meine Frau vom Flughafen Ezeiza ab - und erkannte sie kaum wieder nach 10 Wochen, in denen sie super diszipliniert Diät gehalten und kräftig abgenommen hat. Der erste gemeinsame Weg führte uns vorbei an der berühmten Plaza de Mayo zum Puerto Madero, wo auch die Fähren anlegen, und zu einem bezaubernden Naturschutzgebiet am Río de la Plata.

Buenos Aires ist europäischer als Montevideo, allerdings ist auch alles sehr viel größer: Die Straßen, die Häuser - und die Armut. Insofern ist die argentinische Hauptstadt dann doch wieder sehr amerikanisch.

Man trifft vereinzelt noch Relikte der Belle Epoque wie das Café Tortoni in der Avenida de Mayo (ganz in der Nähe unseres Hotels).  Wir haben die Tage ausgiebig touristisch genutzt und waren immer wieder von der Architektur beeindruckt.

Alle möglichen Segenswürdigkeiten von Buenos Aires könne man sich ansehen - eine aber müsse man unbedingt aufsuchen, wurde mir zuvor geraten - und es erwies sich als richtig: Der Friedhof Recoleta ist eine regelrechte Totenstadt, die uns zwar ästhetisch nicht gefiel, aber durchaus einen Eindruck hinterlassen hat, wie sich frühere Generationen ehrfurchtsvoll mit dem Tod auseinandergesetzt haben.

Am Dienstag war Gedenktag der Malvinen-Inseln (bei uns besser bekannt als Falkland Islands). Das knallbunte Touristenviertel “Caminito” mit seinen Tango-Vorführungen und Andenkenläden erreichten wir nach einer U-Bahnfahrt (“Subte”) und einen längeren Fußmarsch durch das sehr arme Viertel “La Boca” - berühmt wegen seines Fußballclubs, in dem auch mal ein gewisser Diego Maradona klein angefangen hat.

Ganz in unserer Nähe fanden wir eine punkige Burger-Bude namens “Saint Burger”, wo man - siehe die Speisekarte - Kompositionen mit biblischen Namen erwerben konnte, die uns außerordentlich gut geschmeckt haben.

Mittwoch war dann der Studienzeit-Modus wieder aktiviert; davon berichte ich morgen.

Am Donnerstag fuhren wir mit der Fähre nach Colonia, um dort zu zweit die hübschen alten Häuser und Türmchen zu bestaunen, die ich schon von der Hinreise kannte.

Am Freitag machten wir eine Tour im Touristenbus, um das sehr viel dünner besiedelte, aber eine größere Fläche einnehmende Montevideo besser besichtigen zu können (z.B. den Mercado Agricola oder den Parque Battle mit dem Fußball-Nationalstadion).

Am Sonnabend machten wir bei einer geführten Wanderung durch die Altstadt und den Palacio Salvo mit und genossen das noch mal schöne Wetter.

Am Sonntag nach dem Gottesdienst wurden wir bei einem Mittagessen von der Gemeinde verabschiedet, und ich habe heute meine Frau zum Flughafen begleitet - sie ist, während ich am Schreibtisch sitze - gerade auf dem Flug nach Madrid, von wo aus sie morgen früh nach Berlin weiterfliegt

Dienstag, 9. April

Weit entfernt und doch ganz nah

Es ist nicht meine Art, mich selbst irgendwo einzuladen - deshalb schlug ich vor, daß wir nach einer kurzen Kirchenbesichtigung irgendwo im Viertel zusammen was essen gehen (zumal ich meine Frau mitzubringen gedachte).

Wilma, die Ehefrau von Álvaro Michelin, war am Mittwoch voriger Woche jedoch ausnahmsweise auch zuhause und ließ es sich nicht nehmen, uns zum typisch argentinischen Asado einzuladen; sie freute sich über unseren Besuch und die damit gegebene Gelegenheit, mal wieder Deutsch zu sprechen (was sie gut beherrscht; für ihren Mann, der in Deutschland studiert hat, war es anstrengend, aber machbar).
Das Ehepaar repräsentiert die evangelische Ökumene: Er ist Pfarrer der Waldenserkirche, seine reformierte Gemeinde hat aber auch französische und niederländische Wurzeln. Sie arbeitet in einer kleinen lutherischen Kirche als Schulpfarrerin und ist für mehr als 1000 Schüler/innen sowie deren Eltern und die Mitarbeitenden des Gymnasiums zuständig.

Menschlich war es wie der Besuch bei alten Freunden. Wir blieben fast drei Stunden.
Theologisch war es wie eine Plauderei mit ehemaligen Studienkolleg*innen. Wir entdeckten eine Menge an Übereinstimmungen in der Einschätzung der Weltlage, und ich erfuhr einmal mehr, wie Christen in Südamerika wider alle Wahrscheinlichkeit eines Erfolgs ihre Arbeit tun im Vertrauen darauf, daß Gott sie nicht umsonst sich abmühen läßt - auch wenn es keine langfristige finanzielle Absicherung gibt, sondern das Kontinuum, mit dem man rechnen kann und muß, die wirtschaftliche und politische Unbeständigkeit ist.

Antworten

Vorher waren meine Frau und ich bei der Generalsekretärin der Evangelischen Kirche am Río de la Plata.

Man stelle sich vor: Ein ausländischer Pfarrer, den niemand kennt, kommt aus eigenem Interesse ins Land, um irgendwelche Studien zu treiben, und bittet um einen Termin bei der Kirchenleitung - in unserem Falle wäre das dann eine Person aus dem Kirchenamt der EKD in Hannover. Und obwohl es keinerlei Verpflichtung vertraglicher Art, keinerlei formale Beziehung gibt, nimmt sich jemand Zeit für ein solches Gespräch und empfängt mich gelassen und freundlich, antwortet offen und  zugewandt - und gibt mir sogar noch das Gefühl, einen Beitrag zur Selbstreflexion geleistet zu haben, eine Gelegenheit, selbstkritisch einige Probleme zu betrachten.

Pfarrerin Skupch - wir hoffen sie auf dem Kirchentag in Dortmund wieder zu treffen - spricht akzentfrei Deutsch und hat sich auf unser Gespräch vorbereitet, indem sie meine vorher eingereichten Fragen schriftlich beantwortet hat.

Als Besonderheit der IERP im lateinamerikanischen Kontext hebt sie hervor, daß Männer und Frauen im Pfarramt gleichberechtigt sind und daß die reformatorischen Grund-Themen  “Freiheit” und “Verantwortung” nirgends so hochgehalten würden wie eben hier.

Zur Wechselwirkung mit den sozio-ökonomischen Bedingungen nennt sie zunächst die Befreiungstheologie als wichtige Referenz und erklärt ferner - abgesehen natürlich vom umfangreichen diakonischen Engagement, das die Kirche leistet, wo der Staat gefordert wäre, sozialpolitisch verantwortlich zu handeln -, daß die Minderheitensituation als Evangelische in einem (weitesgehend) katholischen Kontext immer wieder zur Selbstreflexion nötigt und daß die kleinen Gemeinden eine Menge Gottvertrauen hätten, was ihnen in mancherlei Schwierigkeiten Widerstandsfähigkeit verleiht.

Weniger entschieden als Jerónimo widerspricht Sonja Skupch, als ich den Anspruch, eine unierte Kirche zu sein, in Frage stelle.

Tatsächlich kümmert sich die Zentrale der IERP nicht nur um die Ausbildung des theologischen Nachwuchses und die Außenbeziehungen der Kirche sowohl in der Ökumene als auch gegenüber staatlichen Stellen, sie regelt nicht nur die Pfarrbesoldung und Altervorsorge der Ordinierten, sondern legt größten Wert auch darauf, daß man liturgisch überall innerhalb der IERP wiedererkennt, daß man sich eben in einer der zugehörigen Gemeinden befindet.

Da die Gemeinden ansonsten selbständig und  allein verantwortlich handeln und lediglich 15% ihrer Einnahmen als Umlage für die Dachorganisation abführen, handelt es sich tatsächlich um kongregationalistische Strukturen, in denen die meist lutherisch geprägten Gemeinden existieren.

Raum für konfessionell bedingte Lebensäußerungen wurden nicht einmal bei der Vereinigung mit der vormals selbständigen Reformierten Kirche Argentiniens vertraglich vereinbart (entsprechend unbefriedigend für beide Seiten funktioniert das Zusammenleben unter dem gemeinsamen Dach).

Zur GEKE [Gemeinschaft Evangelischer Kirchen Europas] befragt, erfahre ich 1), daß die IERP dort Mitglied ist, 2), daß die Leuenberger Konkordie von 1973 auch für Lateinamerika Maßstäbe gesetzt hat [seither gibt es zwischen den Unterzeichnerkirchen volle geistliche Gemeinschaft] und 3), daß man zwar regelmäßig zu den Tagungen der GEKE eingeladen wird und bisher auch brav daran teilgenommen hat, man die Zeit jedoch für gekommen hält, eine Art “Sektion Lateinamerika” der GEKE zu gründen, den Kontakt zu den europäischen Partnern besser zu bündeln, um Zeit und Energie freizubekommen für die Diskussion der unmittelbar betreffenden Themen auf dem eigenen Kontinent.

Eine Kirche in drei Ländern - das ist aus der Sicht von Sonja Skupch erst einmal ein Reichtum an Frömmigkeitsstilen und kultureller Vielfalt. Auf der organisatorischen Ebene stehen dem allerdings Schwierigkeiten gegenüber: Große Entfernungen sind zu überbrücken, es gibt verschiedene Währungen und sehr unterschiedliche staatliche Regelungen für evangelische Kirchen im Hinblick auf Steuerpflicht oder das Vereinsrecht.

Zu den Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen EKD und IERP zählt in erster Hinsicht der Anspruch, eine wissenschaftlich fundierte Theologie mit kritischer Perspektive auf die sozialen und politischen Entwicklungen zu treiben.

Eine solide - wissenschaftliche theologische  - Ausbildung der Pfarrerschaft unterscheidet die IERP von manchen ihrer evangelischen Schwesterkirchen der Region und verbindet sie mit uns Europäern.

Auch gewisse kulturelle Aspekte, die in der Liturgie ihren Niederschlag finden (Orgelmusik beispielsweise), zeugen von jener Nähe, die dem gemeinsamen Ursprung zuzuschreiben ist.

Die Unterschiede liegen auf der Hand: Die IERP ist nicht - und war nie - eine Volkskirche. Das macht flexiblere Strukturen erforderlich und möglich, was wiederum eine größere Anfälligkeit für so nicht gewollte Veränderungen mit sich bringt.

Außerhalb der ursprünglichen Agenda fragte ich auch - und zwar als Eingangfrage - nach der Zukunft der Theologenausbildung nach der Schließung des ISEDET.

Die Gründe für das  Aus, die mir Frau Skupch nannte, klangen nüchterner als aus dem Munde von Jerónimo (den es als dort verantwortlich Tätigen existentiell getroffen hat). Man habe eine Zwischenlösung (eine Kombination aus E-Learning und Wochenseminaren) konstruiert und  arbeite an einem neuen Konzept, das als dringend erforderlich betrachtet wird, aufgrund sehr geringer Studierendenzahlen aber sehr schwer umzusetzen sein dürfte - und selbst wenn, wird es Jahre dauern, bis die ersten Absolvent/inn/en die Pfarrerschaft der IERP verstärken.

Auch bei uns sind wegen finanzieller Schwierigkeiten theologische Ausbildungsstätten geschlossen worden - beispielsweise müssen Vikar*innen der EKBO heutzutage das Predigerseminar in einer anderen Landeskirche besuchen. Aber immerhin gibt es die Nachbarkirchen, und sie sind nicht einmal besonders weit entfernt von Berlin und Brandenburg.

Die IERP hat in dieser Woche ihre jährliche Pfarrkonferenz einberufen. Dazu müssen die Ordinierten zwischen dem Norden Paraguays und Patagonien in den Norden Argentiniens reisen, nicht weit von den berühmten Wasserfällen des Iguaçu - auch für Jerónimo (der gestern Vormittag noch eine Beerdigung zu halten hatte und deshalb verspätet abreisen mußte) bedeutet das einen Weg von mehr als 1000 km, der pro Strecke zu bewältigen ist.

Allein das schon mag einen Eindruck davon geben, wie anders, um wieviel schwieriger es ist, kirchliches Leben evangelischer Prägung hier zu organisieren und zu verwirklichen!

Und mit diesen Einsichten beende ich meinen Bericht von der Studienzeit in der CEAM und der IERP, indem ich mich noch einmal bei allen bedanke, die mir diese besondere Erfahrung ermöglicht haben - als gastgebende und sehr gastfreundliche Gemeinde und Kirche, aber auch als freistellende Landeskirche, als verständisvolle Kollegin und verzichtende Heimatgemeinde.

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